Katyn Mai 1943:  Rotenburger Augenzeugen

Im April 1943 wurden in der Nähe des russischen Dorfes Katyn (westlich von Smolensk) Massengräber polnischer Offiziere entdeckt. Für die deutsche Propaganda war dies eine willkommene Möglichkeit, der Weltöffentlichkeit die vorgebliche Unmenschlichkeit eines ihrer Kriegsgegner vor Augen zu führen.

 

Jedenfalls unternahm sie Versuche zu diesem Zweck. Bei der gescheiterten Umsetzung dieses Vorhabens spielten alliierte Kriegsgefangene aus Rotenburg eine wichtige Rolle. Die Planung des Oberkommandos der Wehrmacht sah vor, hochrangige Kriegsgefangene nach Katyn zu schicken.

 

Dem ranghöchsten britischen Kriegsgefangenen, Generalmajor Victor Fortune, der bereits im 60. Lebensjahr stand, sollte die Mission nicht zugemutet werden, wohl aber verpflichtete man ihn zur Benennung von Teilnehmern.

 

Nach Fortune war Brigadegeneral Claude Nicholson (Oflag IX A/Z Rotenburg) rangmäßig der Zweithöchste. Fortune schlug aber nicht ihn vor, sondern den britischen Oberstleutnant Frank Stevenson und Oberstleutnant Van Vliet (USA). Letzterer brachte dann den ihm von West Point her bekannten Hauptmann Stewart auf die Teilnehmerliste (s. Dokument Mitte links), auf der außerdem eine Handvoll alliierter Gefangener aus anderen Lagern standen.

 

In einem Schreiben, datiert 30.04.1943, ließen Nicholson, Van Vliet und Stewart die Rotenburger Lagerleitung wissen, die Teilnahme an dem Besuch in Katyn erfolge erzwungener Maßen und unter ausdrücklichem Protest (s. Dokument oben links). Vor dem Abflug in Berlin weigerten sich die Katynfahrer dann auch, einem Fluchtversuch durch ihr Ehrenwort abzuschwören.

 

Im Interesse der Einheit der Alliierten gegenüber Hitler-Deutschland wurden die Erkenntnisse der nach Katyn gereisten britischen und amerikanischen Kriegsgefangenen erst Jahre später veröffentlicht. Schon unmittelbar nach der Rückkehr im Mai 1943 hatte Van Vliet in einem verschlüsselten Bericht den

Sowjets die Täterschaft an dem 1940 begangenen Verbrechen angelastet. Im Sommer 1945 lieferte er im Pentagon in Washington einen schriftlichen Bericht ab, der jedoch auf rätselhafte Weise verschwand. Einen ersten unverschlüsselten Bericht hatte Van Vliet bereits im Juli 1945 in Paris abgeliefert.

 

Ein ebenfalls 1943 in Rotenburg gefangener US-Offizier namens Harry Thomas Schultz trug im Juni 1949 wesentlich dazu bei, dass Van Vliet am 11. Mai 1950 eine Neufassung seines Augenzeugenberichts in Washington vorlegte. Schultz hatte zum Thema Katyn Recherchierende auf Van Vliet aufmerksam gemacht.

 

Van Vliet am 11.05.1950 über seine Eindrücke im Wald bei Katyn:

„Überall war der süßlich-widerwärtige Geruch von verwesenden Leichen. An den Leichengruben konnte man es kaum aushalten. Jeder Leichnam wurde sehr sorgfältig untersucht, überprüft, identifiziert und in einem in der Nähe ausgehobenen Massengrab aufs Neue bestattet. Die Untersuchung der Toten geschah sehr gründlich, wenn möglich wurden die Schuhe oder Stiefel ausgezogen; dabei hing manchmal das ganze Bein unterhalb des Knies im Stiefel. […] Neben einem der Gräber waren ungefähr 300 Leichen ausgebreitet. Bei allen waren die Hände hinter dem Körper mit einem Strick zusammengebunden; zu erkennen war ein Einschuss im Hinterkopf und die Austrittsstelle des Geschosses auf der Stirn oder in der Schädeldecke.“

 

Für Van Vliet und die anderen Katynfahrer stand fest, dass der Massenmord schon lange vor der deutschen Invasion geschehen sein musste – tatsächlich waren die über 20.000 Morde in Katyn und an drei anderen Orten durch den sowjetischen Geheimdienst im März/April 1940 begangen worden.

 

Die Katynfahrer lehnten es kategorisch ab, ihre Erkenntnisse öffentlich von sich zu geben. Auch ihren Mitgefangenen verweigerten sie nach ihrer Rückkehr jegliche Auskunft. Ihre der US-Regierung zugestellten Schilderungen wurden als „streng geheim“ behandelt und sind in vollem Umfang erst in den beiden letzten Jahren zugänglich geworden.

 

Dokument unten links: Bestätigung der chiffrierten Botschaften Van Vliets in die USA 1943.

  • Das Gruppenfoto zeigt die „Rotenburger“ Offiziere am 13.05.1943 an einer Leichengrube in Katyn:

        4. v. links:  Frank Stevenson

        5. v. links:  John H. Van Vliet  jr.

        6. v. links:  Donald B. Stewart

 

      Die Fotos daneben zeigen künstlerische Erinnerungswerke.