Kanarienvogel“ („Canary“)  - selbstgebasteltes Radio im Rotenburger Gefangenenlager

  

Der ganze Stolz des Lagers war das selbstgebaute Radio. Durch den Empfang von Nachrichtensendungen des Britischen Rundfunks, des BBC, drang im Juni 1944 die Kunde von der erfolgreichen Landung in der Normandie in das Oflag in der Jakob-Grimm-Schule. So wurde die Voraussetzung für einen Stimmungsumschwung geschaffen. Jetzt konnte man auf ein absehbares Ende der Isolation im Feindesland hoffen.

 

Es war aber nicht nur die Rolle, welche die Rundfunkanlage als Vermittlerin guter Nachrichten ausmachte, sondern das besondere Erfolgserlebnis, das die gefangenen Offiziere hatten, bestand auch darin, dass es den Bewachern nicht gelang, den Standort für den Rundfunkempfang zu ermitteln.

 

Das hier gezeigte „Radio“ ist die Nachbildung eines Rundfunkgerätes, das die in Rotenburg gefangenen britischen Offiziere trotz strengen Verbotes von Sommer 1943 bis März 1945 benutzten, um sich durch die Sendungen des britischen Rundfunks (BBC) über die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs zu informieren.

 

Wesentliche Bauteile (Röhren und Kondensatoren) stammten von einem defekten Filmprojektor aus dem Offizierslager Warburg-Dössel. Major Ernest Shackleton versteckte sie in einem Medizinball und brachte sie im Juli 1943 mit nach Rotenburg.

 

Major Shackleton war es auch, der das Gerät im Mai 1945 nach seiner Befreiung aus einem Versteck in der Jakob-Grimm-Schule holte und in das Imperial War Museum in London brachte. Bei verschiedenen Sonderausstellungen in Großbritannien zählte das originale „Rotenburg Radio“  zu den absoluten Highlights.


2010 wurde bei einer Ausstellung des Radios in Manchester die Herkunft und Verwendung einzelner Bauteile beschrieben:

„Für die Herstellung von variablen Spulen benutzte man leere Klopapierrollen, die mit Kerzenwachs imprägniert und auf baumwollene Spulenhalter mit Blechverbindungen montiert wurden. Regelbare Kondensator-Elektroden wurden aus einer Kakaodose hergestellt, die man mit Hilfe einer Bierflasche geplättet und mit einer Schere zerteilt hatte. Spindeln wurden aus Thermometerhülsen aus dem Lazarett angefertigt und die Griffe von zwei Zahnbürsten dienten als isolierende Stützen. Die Gleichrichterröhre bestand aus Material von einem Bakelit-Aschenbecher,das man mit einem Taschenmesser durchbohrt hatte. Und die Antenne hatte man aus dem Behandlungszimmer des Lagerlazaretts „geholt“.

(Englischer Originaltext unten).

 

Im Lagerjargon hieß das Gerät Kanarienvogel (Canary). Dessen große Bedeutung für die von der Außenwelt weitgehend Isolierten beschreibt Ian Reid in „Prisoner at Large“ (1947):

„Wenn nicht gerade ein deutscher Wachmann sich anschlich und Alarm schlug, was in derRegel selten passierte, bekamen wir täglich um acht Uhr abends unseren BBC-Tagesbericht. Für uns war das so wertvoll wie ein Rotkreuz-Paket, ich kann das deshalb nichthoch genug loben.“

 

Den Nachbau des Radios für die Ausstellung "Hochschule hinter Stacheldraht" konstruierte Daniel Lingelbach vom Rotenburger Medienzentrum.

 

Beschreibung des “Rotenburg Radio” (Auszug aus dem englischen Originaltext):

„Interchangeable coils were made of toilet roll tubes, impregnated with candle wax, which were fitted on the Cotton reel holder with tin contacts. Variable capacitor plates were made from a Rowntrees’ cocoa tin rolled flat by a beer bottle and cut with scissors. Spindles were constructed from clinical thermometer cases, and two toothbrush handles made the insulation supports. The rectifier valve was constructed from a Bakelite ash tray cut and drilled with a penknife, and the aerial wire was ‘acquired’ from the occupational therapy department.”