Albert Crahay  (1903-1991)

 Bis zum Überfall der deutschen Truppen lehrte er als Professor an der belgischen Militärakademie in Brüssel, von 1960 bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst war er als General-Leutnant Oberbefehlshaber der in Deutschland stationierten belgischen Truppeneinheiten, bis 1960 war er Generalstabschef beim NATO-Oberkommando.

 Crahay ist einer der beiden in Rotenburg gefangen gehaltenen belgischen Offiziere, die mit einer Kurzbiografie im „Livre bleu“ erscheinen, der Sammlung von Eckdaten zu den wichtigsten Persönlichkeiten des Königreichs Belgien.

 

Am 21. Juni 1940 kam Albert Crahay als Oberst mit über 500 belgischen Offizieren nach Rotenburg, wo er die nächsten beiden Jahre unter dem Dach der Jakob-Grimm-Schule verbrachte.

 

“Die Gebäude sind ziemlich malerisch, sie liegen an einer sehr schönen Stelle, nahe einer Stadt mit alten Fachwerkhäusern. Beengt untergebracht, sind wir 26 Offiziere in einem Raum, der normalerweise für ca. 10 Personen bestimmt ist. Wir schlafen in Stapelbetten, auf Matratzen aus Hobelspänen, die auf Holzbohlen liegen. Ein einziger Tisch dient uns zum Schreiben und Essen. Die Speisen sind ziemlich einfach, aber sie werden durch eine hingebungsvoll arbeitende belgische Mannschaft verbessert. Viele leiden an Hunger und fehlendem Tabak. Die Flure sind verpestet von dem Geruch der Kastanienblätter oder dem stinkenden polnischen Tabak, den die Deutschen an uns verteilen.“

 

So beginnt Crahay seine ersten Eindrücke von Rotenburg, veröffentlicht 1988 in seiner Autobiografie „Une Vie au XXe Siècle“.  Nach drei schwierigen Monaten, so Crahay, verbesserte sich die Versorgungslage, als Lebensmittelpakete vom belgischen Roten Kreuz eintrafen.

 

Den deutschen Lagerkommandanten nahm Crahay als jemanden wahr, „der nicht viel zu sagen hat“.  Dessen Stellvertreter Gonnermann dagegen übe als Sicherheitsoffizier, unterstützt vom Lagerfeldwebel,  „eine wirkliche Schreckensherrschaft“ aus.

 

Crahay sieht ebenso wie die meisten seiner Kameraden zunächst keine Hoffnung auf eine militärische Wende des Kriegsgeschehens. Wohl aber hofft er auf eine baldige Freilassung, weil eine Liste mit 20 „officiers du génie“  (Offiziere mit technischem beruflichen Hintergrund) im Lager eingeht, die nach Belgien zurückgerufen werden, um dort am Wiederaufbau mitzuwirken.

 

„Die Möglichkeiten zur Flucht sind sehr beschränkt, weil die Lagereinzäunung leicht zu überwachen ist. In den zwei Jahren schaffte es ein einziger von uns bei einem Spaziergang dem Lager zu entkommen. Er wurde am benachbarten Bahnhof erkannt, wo er einen Zug besteigen wollte.“

 

Nachdem die in Rotenburg gefangen gehaltenen Offiziere die Hoffnung auf baldige Freilassung schwinden sahen, widmeten sie sich in Kleingruppen verstärkt Fragen der gesellschaftlichen und politischen Struktur ihres Staates. Grundlegend dafür ist die gemeinsame Erkenntnis, dass der schnelle Zusammenbruch ihres Landes tiefer liegende Ursachen hat.  Crahay: „Wir brauchen eine Institution mit größerer Autorität, die vom König ausgehen muss, was aber jetzt kein Thema ist.“

 

Oberst Wanty, der Herausgeber des Lagermagazins  FULDA-ECHO, wird von Crahay als Leiter einer Gruppe genannt, die sich einen autoritär ausgerichteten Staat wünscht.

 

Für außerdem erwähnenswert hält Crahay eine Gruppe von flämischen Offizieren, die bestrebt ist, ihre Vorstellungen mit deutscher Unterstützung zu realisieren. Hier wird darüber diskutiert, ob man in einem Brief an Hitler die Freilassung erbitten soll.

 

„Die Deutschen sind vor allem darum bemüht von uns zu erfahren, ob wir Flamen oder Wallonen sind. Obwohl sie frankophon sind, bezeichnen sich einige als flämisch, weil sie hoffen, auf diese Weise befreit zu werden.“   Ihre Bemühungen müssen aber ohne Erfolg bleiben, denn nur Reserveoffiziere werden in die Heimat entlassen, von denen es jedoch keine in Rotenburg gibt.

 

Einige flämischstämmige Offiziere sind jedoch in das Lager in Luckenwalde verlegt worden, um sie dort für Zwecke der Kollaboration gefügig zu machen. So schaffen einige die Rückführung in ihre flämisch-belgische Heimat. Wer sich jedoch der Kollaboration widersetzt, bleibt in Gefangenschaft. Viele der jüngeren flämischen Offiziere fühlen sich laut Crahay in der Masse der frankophonen Mitgefangenen isoliert. 

 

Mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Dezember 1941 registriert Crahay bei sich und vielen seiner Mitgefangenen die Hoffnung auf eine Wende und das Ende der Gefangenschaft. „Nur einige unerbittliche Antikommunisten glauben noch an einen deutschen Sieg.“