Fluchttunnel in die Freiheit – gescheitert durch Verrat im Juni 1943

 

Unter den Fluchtversuchen ist die am 24.06.1943 durch Verrat geplatzte Aktion weit über die Mauern der Jakob-Grimm-Schule hinaus bekannt geworden.

 

Seit Dezember 1942 direkt beteiligt an dem Bau eines Tunnels von der Turnhalle der Jakob-Grimm-Schule aus war eine halbe Hundertschaft von Offizieren aus Großbritannien, Australien und Neuseeland, ab Mai 1942 unterstützt durch eine kleinere Gruppe amerikanischer Offiziere.

 

Durch die Schilderungen von Leutnant Stuart Chant-Sempill, der ab Januar 1943 zu den eifrigsten „Maulwürfen“ gehörte, lassen sich Organisation und technische Details ebenso rekonstruieren wie die beim Tunnelbau zu überwindenden Schwierigkeiten und das letztendlich durch Verrat verursachte Misslingen.

 

Ende Juni 1943 war das Projekt soweit gediehen, dass lediglich günstige Lichtverhältnisse für den Ausbruch abgewartet werden sollten. Man war bis dahin unter der Braacher Straße und den angrenzenden Gärten bis an den Rand der Fuldawiesen vorgedrungen, als in der Nacht vom 24. zum 25. Juni 1943 die Lagerkommandantur ein Stoppsignal setzte.

 

Von den knapp 600 belgischen kriegsgefangenen Offizieren, die von Juni 1940 bis Juli/August 1942 in der Jakob-Grimm-Schule waren, ist eine ganze Reihe von gescheiterten Ausbruchsversuchen überliefert, gestartet von Einzelnen oder partnerschaftlich (s. Darstellung auf einer der fünf Tafeln für die belgischen

JGS-Kriegsgefangenen).

 

Der Ausbruchsversuch in der ersten Jahreshälfte 1943 aber war der erste von zwei großangelegten Fluchtprojekten vornehmlich britischer Offiziere und solcher aus dem Commonwealth. Das Kommando über die in militärischem Stil durchorganisierte Aktion hatte der schottische Major Geoffrey MacNab; nach dem Krieg wurde er zum Brigadegeneral befördert und geadelt. (MacNab-Foto neben Kennkarte von Chant-Sempill)

 

Laut Chant-Sempill (St. Nazaire Commando, John Murray Publishers, London 1985) war der Plan von Neuseeländern und Australiern ausgeheckt worden, zwei der Beteiligten waren Bergbauingenieure.

Der Zugang zum Tunnel war raffiniert hinter der Holzvertäfelung der äußeren Turnhallenwand versteckt  und lag zum Teil hinter einem Heizkörper. Von dort führte ein Schacht bis ca. 6 m senkrecht nach unten. Dort startete der eigentliche Tunnel, dessen Ausstiegsschacht in fast 70 m Entfernung projektiert war.

 

Für den Verrat machte man im Lager einen im Frühjahr 1943 vom Offiziersgefangenenlager Spangenberg nach Rotenburg verlegten britischen Soldaten verantwortlich, der sich schon in Spangenberg als Leutnant in einem Commando-Stoßtrupp ausgegeben hatte und auch dort misstrauisch beäugt worden war. Er war als einfacher Soldat 1941 auf Kreta in Gefangenschaft geraten. Am Tag vor dem Stopp des Tunnelbaus hatte man ihn aus Rotenburg weggebracht, „nachdem er die meisten Geheimnisse verraten hatte, die wir über sechs lange Monate hin gehegt, gepflegt und bewacht hatten. Er erwies sich als Verräter.“

(Chant-Sempill)

 

In ähnlicher Weise äußerten sich andere damals in Rotenburg gefangen gehaltene Offiziere in ihren Tage-büchern und Autobiographien.

 

Was bei der Suche nach dem Verräter noch hinzukommt: ein Fluchtversuch in einem der Spangenberger Lager war in der gleichen Nacht aufgedeckt worden wie das Vorhaben in Rotenburg.

 

Lagerfeldwebel Sultan gab 1966 in einem Interview den Namen des Kollaborateurs mit „Oberleutnant Bolock“ an, „der war nämlich ein Spitzel, von der Deutschen Wehrmacht eingesetzt. Zuerst war er in Spangenberg, später wurde er nach Rotenburg versetzt. Er hatte diesen großen Stollen verraten.“

 

 Das A3_Bilddokument zeigt einen der alliierten Offiziere beim Tunnelbuddeln in Rotenburg 1943. Das

Gemälde wurde von dem damaligen britischen Leutnant und späteren Porträtmaler David C. Feilding (1913-1966) nach seiner Rückkehr nach England geschaffen. Von Ende August 1942 bis zum Evakuierungsmarsch am 29. März 1945 war Feilding in Rotenburg. Das Original befindet sich im Imperial War Museum in London, dem zentralen Britischen Kriegsmuseum.

 Eine ausführlichere Schilderung des Tunnelprojekts 1943 im OFLAG IX A/Z Rotenburg hier als

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