15-tägiger Evakuierungsmarsch - 29. März bis 13. April 1945

 

Am 29. März 1945, gegen 14 Uhr, verließen die noch immer über 400 gefangenen Offiziere das Lager in der Jakob-Grimm-Schule. Nach 15 Tagen und 170 Marschkilometern wurden sie am 13. April 1945 von Einheiten der 3. US-Army in Wimmelburg, vor den Toren der Lutherstadt Eisleben, aus ihrer Gefangenschaft befreit.

 

Ihnen wäre es lieber gewesen, ihre Befreiung durch die heranrückenden US-Truppen in Rotenburg zu erleben. Man befürchtete nämlich, die NS-Größen wollten sich in den Alpen verschanzen und kriegsgefangene Offiziere als Geiseln benutzen.

 

Die Rotenburger Lagerleitung orientierte sich konsequent an Artikel 7 der Genfer Konvention, wonach es nicht erlaubt ist, Kriegsgefangene in unmittelbarer Nähe von Kampfhandlungen unterzubringen, sondern sie zu „Sammelstellen zu bringen, die vom Kampfgebiet genügend weit entfernt liegen.“

 

Die Gefangenen durften nur so viel mitnehmen, wie sie ohne Beeinträchtigung ihres Marschtempos tragen konnten. Die Sachen, die sie zurücklassen mussten, verpackten sie zur Aufbewahrung in Kisten, die in einem verschlossenen Raum abgestellt wurden. Man hoffte, irgendwann der Dinge wieder habhaft zu werden, wozu es allerdings nur sehr bedingt kam. 

 

Jemand hatte die geniale Idee, Bettlaken einzupacken, aus denen man die Buchstaben P und W formen konnte, um so als Prisoner of War , als Kriegsgefangener, erkennbar zu sein. Dies wurde tatsächlich bei mehreren Gelegenheiten praktiziert und hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Rotenburger Kolonne bei ihrem Marsch nicht von alliierten Flugzeugen angegriffen wurde, wie dies andere Gefangenengruppen leidvoll erfahren mussten.

 

„Nachdem wir von unseren Jagdfliegern als alliierte Gefangene identifiziert worden waren, bekamen wir täglich Besuch aus der Luft. Dass sie im Bilde waren über unsere Identität, signalisierten sie bei ihren täglichen ,Kontrollflügen‘ durch Wedeln mit den Flugzeugflügeln, als ob sie sagen wollten: o.k. Jungen, wir wissen, wo Ihr seid.“  So Leutnant Alan Green (s. Porträtfoto) in seinem Tagebuch.

 

Alan Greens Tagebuch wurde von seinem Sohn Peter Green veröffentlicht, der mit The March East  eine detaillierte Schilderung des Evakuierungsmarsches vorgelegt hat. Dieser Quelle verdanken wir alle auf dieser Tafel gezeigten Fotos und eine Reihe weiterer Abbildungen auf anderen Tafeln der Ausstellung.

 

Erträglich wurde das zweiwöchige Marschieren dadurch, dass ein Teil des privaten Gepäcks, die Kochutensilien und die medizinische Ausrüstung auf zwei Wagen des Rotenburger Fuhrunternehmers Gustav Dörr transportiert wurden (s. Foto),  der mehrere Pferde zur Verfügung stellte - und außerdem zusammen mit zwei seiner russischen Zwangsarbeiter als Kutscher selbst mit von der Partie war. Daneben wurde der Tross von dem schwedischen CVJM-Pfarrer Gunnar Celander begleitet, der seinen Rotkreuz-Dienst-PKW mit Anhänger und einen Lastwagen mit dänischem Fahrer bereitstellte. (s. Fotos).

 

Bereits am 12. Mai 1945 veröffentlichte das Londoner Illustrated Magazine  einen Bildbericht über den Evakuierungsmarsch. Die zum Teil wahrheitswidrige Schilderung wurde von Peter Green in seinem Buch The March East  kritisch kommentiert. Peter Green kam am 16.11.2014 zur Eröffnung der Ausstellung "Hochschule hinter Stacheldraht"/ "College behind barbed wire" nach Rotenburg, wo sein Vater sich von Oktober 1944 bis März 1945 als Kriegsgefangener aufgehalten hatte.

 

 

Ergänzung:

 

Der Befehl, sich zum Abmarsch fertig zu machen, war am frühen Morgen des 29. März 1945 ergangen. Auf ein solches Kommando waren die in Rotenburg Gefangenen schon seit Tagen vorbereitet, nachdem der Frontverlauf erkennen ließ, dass die alliierten Truppen Rotenburg in absehbarer Zeit erreichen würden. So waren die letzten Tage im Rotenburger Offiziersgefangenenlager dem Herstellen von Rucksäcken und Tragetaschen gewidmet, die man aus Mänteln, Hemden, Gürteln und ähnlichem zusammennähte.

 

Als sich die Kolonne kurz nach 14 Uhr am 29. März 1945 in Bewegung setzte, rollten aus südlicher Richtung die Einheiten der 4. US-Panzerdivision in Bad Hersfeld ein, tags darauf konnten sie in Rotenburg sein. Aus westlicher Richtung näherte sich die 65. US-Infanteriedivision.

 

Der Marsch führte die Gruppe der jetzt noch über 400 Rotenburger Kriegsgefangenen und deren Bewacher am Nachmittag des 29. März 1945 vom Ende der Braacher Straße über die Fuldabrücke durch das Heienbachtal nach Schwarzenhasel und von dort über Rittershain nach Rockensüß zur ersten Übernachtung.

 

Das ursprüngliche Ziel des Marsches war das ca. 75 km entfernte thüringische Mühlhausen. Von dort, so wurde angenommen, sollten sie per Bahn in das zentrale Lager für Kriegsgefangene im oberbayerischen Moosburg befördert werden. Diese Option war aber offensichtlich durch die sich überstürzenden Ereignisse im Frühjahr 1945 nicht mehr gegeben.

 

Immer wieder stellte sich den Marschierenden die Frage, ob sie die sich vergleichsweise leicht bietende Chance zur Flucht nutzen sollten oder sich lieber weiter durch die ihnen vertraute Wachmannschaft beschützen zu lassen. Es war auch in deren Interesse, bei der vorauszusehenden baldigen eigenen Gefangennahme bei den ehemals von ihnen Bewachten und Kontrollierten einen guten Leumund zu haben. Und darauf konnten sie durchaus vertrauen, denn von Einzelfällen abgesehen erhielt das Wachpersonal gute Beurteilungen.

 

In den verschiedenen Publikationen von in Rotenburg „Einquartierten“ gilt dies in erster Linie für den Feldwebel Heinrich Sultan. Dies manifestierte sich etwa in der Reaktion der Gefangenen auf die Nachricht im Oktober 1944, dass Sultans Sohn gefallen sei.

 

Einige der Gefangenen aber waren nicht von der Vorstellung abzubringen, dass sie noch vor der totalen Kapitulation Deutschlands erschossen oder in Geiselhaft genommen würden. Deshalb waren sie gewillt, das Risiko in Kauf zu nehmen, als Flüchtige von fanatischen Hitlertreuen hingerichtet zu werden.

 

Fünf Marschierende gingen bereits am ersten Tag des Evakuierungsmarsches bei einbrechender Dunkelheit dieses Risiko ein. Sie hatten bei früheren Ausflügen davon Kenntnis bekommen, dass der Besitzer von Hof Guttels, Major a. D. Gustav Venema, ein Hitlergegner war und Verfolgten Schutz gewährte. Dies berichtet jedenfalls Harry Reinolds in seinen Kriegserinnerungen.

 

Als es dann hinter Schwarzenhasel in den dichten und dunklen Wald nach Rittershain und Rockensüß ging, setzten sich zwei weitere Marschteilnehmer ab, Captain Ian Reid und Leutnant George Bowlby. Während die nach Guttels Geflohenen sich tatsächlich in Sicherheit bringen konnten, endete die Flucht der beiden später Entwichenen im Polizeigefängnis in Bebra.

 

Dort hatten sie es glücklichen Umständen und dem Beistand einer Reihe von Personen zu verdanken, dass sie den Nachstellungen der noch vor Ort wütenden SS-Schergen und der ihnen ebenso nach dem Leben trachtenden Aktivisten des Volkssturms entgingen. Als die SS am frühen Morgen des 2. April die Stadt verließ, konnten sich die beiden jedoch gerettet fühlen. Nicht nur das, sie erlebten sogar einen überraschenden Rollentausch und sahen sich schneller als erwartet in der Siegerrolle. Denn ausgestattet mit einer großen weißen Fahne stand Bebras Bürgermeister urplötzlich vor ihnen, um ihnen das Kommando über die Stadt zu übergeben.

 

Statt das Angebot anzunehmen, brachten die beiden Engländer das zur Abdankung bereite Stadtoberhaupt nach Breitenbach und drängten den Bürgermeistern zur Übergabe der weißen Fahne an die am anderen Ufer der Fulda positionierten Amerikaner.

 

Über diesen Vorgang und die turbulenten Tage davor hat Ian Reid in seinem zum Bestseller gewordenen Kriegstagebuch (Prisoner at Large, 1947, Neuauflage 1976) detailliert berichtet. (s. weiter unten!)

Für den damaligen Bebraer Polizeichef Rex - Reid nennt ihn Oberleutnant Rex - finden sich darin Worte tiefer Dankbarkeit und höchsten Lobes ob dessen entschlossener und geistesgegenwärtiger Reaktion in Situationen, die für die Gefangenen äußerst bedrohlich waren.

 

So vergaß Ian Reid auch nicht, Bebras damals obersten Polizisten der einmarschierenden US-Einheit als denjenigen vorzustellen, der einiges riskiert hatte, um das Leben der entwichenen Kriegsgefangenen zu retten.

 

„Bei der Gelegenheit erfuhren wir auch,"  so Reid, "dass er (Rex) am 14. Dezember 1944 den Befehl erhalten hatte, neun amerikanische Piloten zu erschießen, die damals im Polizeigefängnis eingesperrt waren. Dies zu tun, hatte er sich geweigert. […] Irgendwie konnte er ein Verfahren vor dem Kriegsgericht wegen Befehlsverweigerung abwenden. Um das Ganze zu beweisen, zeigte er uns die Dokumente. Ein außergewöhnlicher Mensch, dieser Oberleutnant Rex.“ 

 

Zurück zu der am frühen Nachmittag des 29. März 1945 in Rotenburg aufgebrochenen Gefangenenkolonne. Nach einem Zwischenstopp gegen Mitternacht in Rittershain ging es schon auf den Morgen zu, als die Marschkolonne Rockensüß erreichte. Hier wurden sie von warmem Essen und freundlichen Dorfbewohnern erwartet, die gern Lebensmittel gegen die von den „Gästen“ mitgeführten Genussartikel wie Schokolade und Zigaretten tauschten.

 

Eine 8er-Gruppe der Gefangenen fühlte sich in Rockensüß so gut aufgenommen, dass sie sich zum Bleiben entschloss und sich vor dem Weitermarsch in der großen Scheune verkroch, die als Nachtquartier gedient hatte. Hier wollte man die Tage bis zur Ankunft der alliierten Streitkräfte ausharren.

 

Man hatte aber die Rechnung ohne die lokalen NS-Fanatiker gemacht, die den Volkssturm für die Suche nach den Flüchtigen heranzogen. Entgegen den Regeln der Genfer Konvention kam es dabei zu brutaler Gewaltanwendung. 1946 mussten sich einige der Beteiligten dafür vor Gericht verantworten. Einer der Anklagepunkte bestand in dem Vorwurf, bei der Suche nach den Geflüchteten rücksichtslos mit Heugabeln auf das vermutete Versteck eingestochen und wild mit Knüppeln auf die aus ihrem Versteck Geholten eingeschlagen zu haben. Immerhin wurde der Hauptbeteiligte 1946 in 1. Instanz zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt.

 

„Den Geflüchteten war nicht klar gewesen, dass die Kooperation mit geflüchteten Kriegsgefangenen für die Einheimischen etwas anderes war, als unter den Augen der deutschen Soldaten der Tausch von Lebensmitteln gegen Seife, Schokolade und Zigaretten.“  So Peter Green in seinem Buch The March East.

 

Ihre weitere Route führte die Rotenburger Kriegsgefangenen bis dicht an Nordhausen heran, wo sie Augenzeugen der Gräuel wurden, welche die Zwangsarbeiter des Lagers Dora bis in die letzten Märztage zu erleiden hatten.

 

Bis ins Detail ist der menschenverachtende Umgang mit den Kriegsgefangenen dokumentiert, die „minderwertigen Rassen“ angehörten. Dagegen hielt man sich bei der Behandlung der in deutsche Gewahrsam geratenen alliierten Soldaten bis in die letzten Kriegstage an die 1929 in der Genfer Konvention getroffenen Vereinbarungen. Nach allem, was über das Rotenburger Lager bekannt geworden ist, gilt dies für die fünf Jahre seiner Existenz ebenso wie für die Behandlung der Gefangenen auf ihrem 17-tägigen Marsch.

 

Allerdings hatten diese noch während ihrer Zeit in Rotenburg bei Ausflügen in die Umgebung bei der Begegnung mit Zwangsarbeiterinnen eine Vorstellung davon bekommen, zu was Hitlers Gefolgsleute fähig waren. Deshalb waren die Gefangenen im Zweifel darüber, ob die Deutschen sich auch bei einem Kriegsausgang zu ihren Ungunsten dann noch an das Regelwerk der Genfer Konvention halten würden.

 

Ebenso befürchteten viele Kriegsgefangene, die Bombardierung ziviler Ziele durch die Alliierten könnte dazu führen, sich an den Gefangenen aus den westlichen Ländern schadlos zu halten. Auf jeden Fall traute man der SS eine entsprechende Reaktion zu. Spätestens als sie bei ihrem Weg von Rotenburg in den Osten mit den Bildern von Elendsgestalten aus den Zwangsarbeitslagern konfrontiert wurden, geriet das Vertrauen in die weiterhin faire Behandlung stark ins Wanken.

 

Welch’ menschenverachtender Umgang mit Gefangenen auf deutschem Boden in jenen Jahren stattfand, hatten einige von ihnen mit eigenen Augen erlebt, als sie gegen Jahresende 1944 in der Nähe von Rotenburg einer Gruppe von Zwangsarbeiterinnen bei der Feldarbeit gewahr wurden. .„Obwohl uns ihre körperliche Verfassung bis aufs Mark erschütterte, waren es ihre völlig leeren und vollkommen ausdruckslosen Augen, die den ultimativen Horror sichtbar werden ließen. Diese menschlichen Skelette waren so etwas wie Geisterwesen aus einer anderen Welt. Dies war unsere erste Begegnung mit Menschen, die zu Sklavenarbeit gezwungen waren, und wir konnten den furchtbaren Schrecken ganz einfach nicht verarbeiten.“ (Harry Roberts, S. 91)

 

Zurück zu den Marschierenden, die ihren Zickzackkurs als Nachweis dafür empfinden mussten, dass ihre Kommandeure keine genauen Vorstellungen vom Ziel ihrer Unternehmung hatten. Der 11. Tag hatte sie ca. 15 km nach Norden geführt, um tags darauf von dem nördlichsten Etappenziel Buchholz wieder Kurs in den Süden zu nehmen. Auf dem Weg nach Buchholz am 11. Tag bekamen sie eine Vorstellung davon, was ihnen blühen würde, wenn die SS das Kommando über sie führen würde. (Roberts, Seite 120, evtl. als Detail betr. SS-Willkür)

 

Zwei Tagespäter machten sie ein zweites Mal Bekanntschaft mit der SS. (Details Roberts, S. 123f.) Der 13. Marschtag sah die Kolonne um 9.30 Uhrauf den Beinen, nachdem die verschiedenen Gebäudeteile eines Staatsgutes in dem kleinen Dorf Uftrungen als Nachtquartier gedient hatten. Nach 12 km Marsch weiter in südlicher Richtung und dann ostwärts durch die Niederungen der Goldenen Aue war mit dem Dörfchen Dittichenrode (heute Teil der Gemeinde Südharz im Landkreis Mansfeld/Südharz) das Tagesziel erreicht.

 

Man schrieb den 10. April 1944, es sollte der letzte Marschtag für die ehemaligen Insassen des Oflag IX A/Z sein. Am Abend des 10. April wurde ihnen mitgeteilt, der nächste Tag würde ein Ruhetag sein. Völlig überraschend hieß es dann am Nachmittag des 11. April, sie würden nach Einbruch der Dunkelheit per Lastkraftwagen zu einem neuen Aufenthaltsort gefahren. Die Ausgabe einer größeren Brotration vor Fahrtantritt ließ die Gefangenen nichts Gutes ahnen. Sie vermuteten, eine größere Wegstrecke vor sich zu haben, nicht aber die baldige Befreiung durch die nur wenige Kilometer entfernt stehenden US-Einheiten zu erleben.

 

Sollten sie in den Süden Deutschlands gebracht werden, um den Nazigrößen als Faustpfand zu dienen? Eine seit Wochen zunehmend gehegte Befürchtung, die jetzt neue Nahrung erhielt. In den Köpfen mancher Deutschen wie auch deren Kriegsgegner hatte sich in jenen Tagen und Wochen das Phantomgebilde („Alpenfestung“) eines letzten Gefechtes festgesetzt, die NS-Führer würden sich unter dem Schutz von SS-Divisionen in den ostbayrischen Alpen in dem Gebiet um Berchtesgaden verschanzen.

 

Der seit Juli 1943 in Rotenburg gefangen gehaltene Hauptmann John Logan notierte in seinem Tagebuch, das er 1948 unter dem Titel „Inside the Wire“  publizierte: „Einige haben die Vorstellung entwickelt, die Deutschen würden den Krieg als Guerillakampf in Bayern und Tirol weiterführen und uns nach dort unten bringen.“

 

Die schlimmen Ahnungen bestätigten sich jedoch nicht, denn nach knapp zweistündiger Fahrt in mäßigem Tempo war das ca. 40 km entfernte Tagesziel erreicht, die Staatsdomäne Wimmelburg auf dem Gelände des ehemaligen, gleichnamigen Klosters, vor den Toren der Lutherstadt Eisleben gelegen.

 

Was sie erst tags darauf erfuhren, es war die Endstation, die sie 14 Tage nach ihrem Abmarsch von Rotenburg erreicht hatten. Insgesamt 170 km lagen hinter ihnen, auf bald wundgelaufenen Füßen und beladen mit zum Teil schweren Gepäck. Für die Jüngeren wäre die Wegstrecke völlig problemlos gewesen, wenn sie nicht durch das lange Fehlen regelmäßiger Bewegung aufgrund ihres Gefangenendaseins in Rotenburg entwöhnt gewesen wären. Dies galt besonders für diejenigen, die fünf Jahre Lagerdasein hinter sich hatten und in all diesen Jahren nur kurze Wegstrecken hatten zurücklegen können.

 

Für die älteren Offiziere war die an einzelnenTagen geforderte körperliche Leistung nur mit größter Anstrengung zu erbringen. Allerdings bestand für Einzelne, die schlapp zu machen drohten, die Möglichkeit, ab und an auf die Rot-Kreuz-Begleitfahrzeuge oder auf einen der Pferdewagen von Gustav Dörr zu steigen.

 

Auf keinen Fall aber entsprach das, was den Offizieren aus Rotenburg für zwei Wochen auf ihrem Evakuierungsmarsch abverlangt wurde, den Strapazen vergleichbar, welche die Kriegsgefangenen aus den im Osten gelegenen Lagern zu ertragen hatten, die vor den anrückenden sowjetischen Truppen in Gewaltmärschen nach Westen geführt wurden. Aufgrund ihrer erbarmungslosen Abwicklung sind diese gemeinhin als „Todesmärsche“ bekannt geworden. Darin sind sich die „Rotenburger“ Verfasser der verschiedenen Tagebücher und Erinnerungstexte einig.

 

Als Lagerkommandant Brix am späten Nachmittag des 12. April 1945 den Weitermarsch anordnete, stieß er auf taube Ohren. Seine Begründung für den Weitermarsch, dass einzelne Gruppen von SS-Leuten, des Volkssturms und der Hitlerjugend die Gegend unsicher machten, sahen die Sprecher der britischen Offiziere als Grund dafür an, vor Ort die im Anmarsch befindlichen US-Einheiten zu erwarten und fürs erste in Deckung zu gehen. Man sei auch Willens, bei der Ankunft der Amerikaner ein gutes Wort für die deutschen Bewacher einzulegen. Oberstleutnant Brix blieb nichts anderes übrig, als den britischen Offizieren zu erlauben, ihr Schicksal in ihre eigenen Hände zu nehmen.

 

Gegen Mittag des 13. April, es war ein Freitag, war das Anrollen von Panzern zu hören. Aber noch immer fehlte vollkommene Klarheit. Waren es die Einheiten der Alliierten oder möglicherweisedoch deutsche Einheiten, die einen Gegenangriff gestartet hatten? Die Zweifel waren aber nach kurzer Frist beseitigt, die in Wimmelburg einrollende Panzerkolonne gehörte zu General Pattons 3. US-Armee.

 

Nachdem die Amerikaner wenige Tage zuvor bei der Einnahme von Nordhausen und seinen Nachbarorten mit eigenen Augen gesehen hatten, welches Schicksal Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge unter deutschem Gewahrsam hatten erleiden müssen, waren sie nicht dazu aufgelegt, der in Wimmelburg verbliebenen Restgruppe Rotenburger Bewacher besonders nachsichtig zu begegnen. Dass dies aber doch geschah, dafür sorgten die jetzt befreiten britischen Offiziere.  (Green, S. 149)