Henri Vanvreckom (1903 - 1991)

 

Nach einem Tag Aufenthalt in Warburg-Dössel kam Henri Vanvreckom am 21.

Juni 1940 nach Rotenburg. Schon im Oktober 1940 konnte er (zusammen. mit weiteren 34) nach Belgien zurückkehren, um dort eine Aufgabe beim OTAD zu übernehmen, dem „Arbeitsbüro der demobilisierten Armee“. Bald engagagierte er sich im Widerstand.

 

Nach 1945 war er Chef der Militärakademie und stieg als Generalmajor zum Präsidenten der Verteidigungskommission auf, 1963 quittierte er seinen Dienst. 1985 verfasste er sein Hauptwerk (1985): L’Armée secrète.

 

In dem Buch Se Battre pour la Belgique, erschienen 1984, schildert er die Ankunft in Rotenburg: im Oktober 1940:

„Auf dem Bahnhofsgebäude lese ich „Rotenburg a/ Fulda“. Man hört laut ausgestoßene Befehle; wir sind angekommen. Es ist 13.05 Uhr. Der erste Eindruck ist in jeder Hinsicht vorteilhaft. Die Ortschaft scheint eine Sommerfrische zu sein, ohne Zweifel angenehm für Touristen, die bei Freunden einkehren. Wird das so bei feindlichen Gefangenen sein? [… ] Die Leute in den Gärten, die an den Bahnhof angrenzen, beobachten uns aufmerksam. In ihren Blicken kann ich keine Feindseligkeit entdecken. Später verstehen wir, dass diese Leute uns für Engländer halten. [… ]

Beim Eintritt in den eigentlichen Ort legt die Marschkolonne eine Pause

ein. Für einige Minuten komme ich daher vor dem Postamt zu stehen, wo die

Mitarbeiter in den Fenstern hängen. [… ]

Langsam machen wir uns wieder auf den Weg, eingerahmt von einer doppelten Reihe von schweigenden Bürgern, die uns mit offenkundiger Neugier, aber ohne erkennbare Feindschaft, scharf ansehen. Nach einer Weile und einem kurzen Halt, benutzen wir, nach einer Wendung nach links, das, was ich als Hauptstraße von Rotenburg vermute.

Die alten Häuser an der Straße haben ein malerisches Gepräge und rufen das

Bild wach, das aus den Meis-tersingern wohlbekannt ist. Alte und schiefe

Fassaden, durch ihr Alter geneigt, durchbrochen von ganz kleinen Fenstern,

ausgeschmückt mit Inschriften oder Tafeln in gotischen Buchstaben. Und alles ist versehen mit einem Anstrich von nicht erwarteten Farbtönen. Das Ganze ergibt einen Stil, der sich von dem unterscheidet, was einem in Belgien begegnet, aber dem es, unter dem Aspekt des Mittelalterlichen, nicht an Charme

fehlt. Die ruhigen Straßen erzeugen ein Gefühl von seelischer Ruhe und friedlichem Leben. Wie weit weg sind die Spuren des teuflischen Kriegsschreckens. […]

Wir überqueren die Fulda auf einer modernen Metallbrücke, einer

unverzeihlichen Geschmacksverirrung in dieser mittelalterlichen Umgebung. Unser Marschtempo lässt mich nur undeutlich das Schloss erkennen, das nicht weit von der Brücke an den Fluss angrenzt. Die Schönheit des alten Turms, der die angrenzenden Häuser überragt, kann ich im Detail nicht erkennen.

Wir wenden uns nach rechts, um nochmals eine Pause einzulegen, bevor wir

das Stadtzentrum verlassen. Dank dieses Anhaltens werden die Kameraden im

Schaufenster einer Buchhandlung eine riesige Land-karte gewahr, die Belgien und den Norden Frankreichs dem zukünftigen Deutschland einverleibt. Damit hat man mir wahrlich den Appetit verdorben. [… ]

Der Weg führt jetzt dem Tal entlang zu den Ausläufern der bewaldeten Hügel

am Südufer der Fulda. Zur Rechten und dann zur Linken verbreiten die Häuser mit dem Grün ihrer Bäume und ihren Blumen in den sie umgebenden Gärten eine seelische Ruhe. [… ]

Bald verbreitet sich in der Kolonne ein verwirrendes Gerücht. Indem ich den Kopf hochstrecke, nehme ich mit Erleichterung die Stacheldrähte wahr, die wie ein endloser Vorhang das riesengroße Gebäude umgeben, das uns in unserem Elend und unseren Hoffnungen von nun an Unterkunft und Schutz sein soll.

Wir gehen an dem monumentalen Eingang der Jakob-Grimm-Schule vorbei, umkreisen zu Fuß einen Wachturm und den von Kastanien gesäumten seitlichen Hof, um schließlich in das Lager IX A/Z einzudringen.

Hinter uns schließt ein eisernes Tor mit einem dumpfen Knall. Die Gefangenschaft beginnt …“